Für einen Tag Assistenzärztin der Unfallchirurgie am KSGR | Kantonsspital Graubünden

Für einen Tag Assistenzärztin der Unfallchirurgie am KSGR

31. Okt. 2024
Assistenzärztinnen und -ärzte der Chirurgie übernehmen vielfältige Aufgaben und tragen eine hohe Verantwortung: Sie assistieren bei Operationen, untersuchen Patientinnen und Patienten, organisieren Untersuchungen und Austritte oder Übertritte in andere Einrichtungen. Sie verordnen Therapien, passen Medikationen an und verfassen Berichte. Wie sie das alles bewerkstelligen, wollte ich live miterleben: an einem Tag als Assistenzärztin.

von Diana Etter (Unternehmenskommunikation)

Kleider machen Leute

6:40 Uhr: Private Kleider aus, weisse Hose und weisses Poloshirt an. Und schon wird aus mir eine "Ärztin". Wow. Für einmal darf ich auch weiss tragen. Und es fühlt sich gleich ganz anders an. Aber wahrscheinlich nur, weil mich alle, die mich kennen, komisch anschauen und sich wahrscheinlich fragen, warum ich so gekleidet bin: "Ich darf heute mal einen Tag Assistenzärztin sein", erzähle ich stolz und bin sehr gespannt auf das, was mich erwartet.
 

OP statt Rapport

6:55 Uhr: Ich habe mit Paloma, Assistenzärztin (AA) Unfallchirurgie, abgemacht. Paloma ist seit knapp einem Jahr als Assistenzärztin im KSGR. Es ist ihre erste Assistenzarztstelle.

6:58 Uhr: Es sind zwar erst drei Minuten vergangen, aber langsam werde ich etwas unruhig, weil Paloma noch nicht da ist. Bin ich auf der falschen Station? Oder hat sie mich vergessen? In zwei Minuten beginnt der morgendliche Rapport. Da sollten wir doch pünktlich sein.

Ich zücke gerade mein Telefon um sie anzurufen, da kommt sie schnellen Schrittes angelaufen.

"Der Rapport fällt aus. Ich muss in den OP", sagt sie. Und, dass ich mitkommen kann, wenn ich will. "Aber es wird blutig." 

Na gut, das ist ein etwas anderer Einstieg als erwartet. Aber dann mal los.

Ab in die Umkleide, weisse Hose und Poloshirt wieder aus, Uhr und anderen Schmuck ablegen. Blaue OP-Hose, OP-Hemd und -Clogs an, Haube und Mundschutz nicht vergessen. Vor dem OP ziehen wir noch Röntgenrock und Röntgenweste an und einen speziellen Schilddrüsenschutz legen wir um den Hals. Noch die Hände gut desinfizieren und ab in den OP. Palomas Anweisung und wichtigste Regel für mich: Nichts anfassen, was grün ist: "Das ist alles steril."

7:05 Uhr: Die OP läuft schon seit circa einer Stunde. Und jetzt ist Schichtwechsel. Ich bin überrascht, dass es das auch direkt während einer OP gibt. Aber klar, wenn man schon die ganze Nacht operiert hat, dann ist so ein Wechsel auch notwendig und man selber um seinen Feierabend froh. Das gesamte Personal wird ausgetauscht: Anästhesie, OP-Fachpersonen und die operierenden Ärzte. 
Das erste was ich im OP sehe ist Blut, viel Blut und eine circa zehn Zentimeter lange offene Schnittwunde am linken Oberschenkel des Patienten. Hinter den operierenden Ärzten ein Tisch mit vielen Instrumenten, viele bereits blutbenetzt. Und blutverschmierte Handschuhe an den Händen der Ärzte.

Der Fall: Oberschenkelbruch. Der Patient: eine betagte Person. 

Ein Oberschenkelbruch wird in der Regel chirurgisch behandelt. Die Fraktur wird mit Platten, Schrauben und/oder Nägeln fixiert. Diese Verletzungsbilder treten häufig im Alter auf. Gründe können abnehmende Knochendichte, Osteoporose und verminderte körperliche Fitness sein. Oft reicht schon einfaches Stolpern, um einen Bruch zu verursachen. In der Schweiz sind jedes Jahr etwa ein Prozent der über 65-Jährigen davon betroffen. 

Operationen am Oberschenkel gehören für Unfallchirurginnen und -chirurgen zum medizinischen Alltag. Nach einer Operation liegen die Patienten durchschnittlich zwölf Tage im Spital. Anschliessend folgt eine mindestens dreiwöchige stationäre Reha. Der Bruch benötigt im Durchschnitt vier bis sechs Monate, bis er wieder verheilt ist.

Die Ärzte arbeiten in der offenen Wunde, ertasten mehr was sie tun, als dass sie etwas sehen. Und immer wieder werden Röntgenaufnahmen gemacht, um zu prüfen, ob Fixierungen, Nägel und Schrauben am richtigen Ort sind.

Alles wirkt sehr ruhig. Es wird mit Bedacht gearbeitet. Die Ärzte tauschen sich untereinander aus. Eine OP-Fachperson reicht dem Arzt die gewünschten Instrumente. Eine weitere OP-Fachperson positioniert das Röntgengerät ständig neu und bringt immer wieder im OP fehlende Instrumente von draussen herein. Der Anästhesist überprüft ständig die Vitalfunktionen und überwacht den Patienten.

Der Bruch ist anscheinend sehr komplex. Der Arzt kommt schwer an die Fraktur ran. Er bittet um das Skalpell. Es muss noch weiter aufgeschnitten werden. 

Eine Operation bei einem Oberschenkelbruch dauert normalerweise 45 bis 90 Minuten. Wir sind jetzt bereits seit über zwei Stunden im OP.

Paloma assistiert den operierenden Ärzten. Dabei kann sie jederzeit Fragen zum Fall stellen: "Das ist so super hier im KSGR. Ich kann während der OP jederzeit nachfragen und bekomme alles erklärt. Das ist nicht überall so."

Bei dem betagten Patienten handelt es sich um einen sehr komplizierten Bruch des Oberschenkelknochens. Daher dauert die Operation auch schon länger als normal. Paloma erklärt mir im Nachhinein: "Die Fraktur war sehr kompliziert und hatte mehrere Fragmente. Beim Reponieren (Richten der gebrochenen Knochen) ist immer wieder alles zusammengefallen. Es ist sehr wichtig, dass der Oberschenkel wieder gerade und richtig rotiert und gleich lang wie der andere ist. Sonst kann der Patient später nicht mehr gehen." Und weiter: "Bei der Mobilisierung ist bei älteren Menschen die Teilbelastung mit Stöcken oft eine Herausforderung. Daher sollten sie mit einem Rollator o.ä. mobilisiert werden. Sechs Wochen darf das Bein nur teilbelastet werden. Danach gibt es einige Verlaufskontrollen in der Sprechstunde. Ziel dieser Operation war, dass der Patient möglichst wieder selbstständig mobil wird."
 

Visite

9:45 Uhr: Die OP ist noch in vollem Gange, aber die Visite wartet. Paloma und ich dürfen gehen: OP-Sachen aus, weisse Hose und Poloshirt wieder an. Auf geht’s zur Bettenstation der Chirurgie. Hier warten bereits acht Patientinnen und Patienten der Unfallchirurgie auf ihre Untersuchung am Patientenbett. Die Unterassistentin Liv kommt zu uns. Sie wird Paloma u.a. bei der Dokumentation bei der Visite unterstützen.

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Liv und Paloma Bettenstation Chirurgie
Unterassistentin Liv (links) und Assistenzärztin Paloma auf dem Gang der Bettenstation der Chirurgie

Die ärztlichen Aufgaben bei der Visite umfassen: 

  • Sichtung der aktuellen Untersuchungsergebnisse
  • Anamnese (systematische Befragung von Patienten, um ihren Gesundheitszustand zu ermitteln)
  • körperliche Untersuchung
  • Dokumentation des Krankenverlaufs
  • Anordnungen / Verordnungen (Physiotherapie; Untersuchungen wie Röntgen, Endoskopien, Labor; Anpassung der Medikation; Verlegung auf andere Abteilung intern oder extern, ggf. Reha planen, OP planen)
  • Entlassung nach Hause oder Pflegeheim

Die Assistenzarzt-Visite findet täglich statt. Dabei wird die Assistenzärztin oder der Assistenzarzt (AA) vom Pflegepersonal begleitet. Die Patientin / der Patient hat die Möglichkeit, seine Beschwerden und Probleme zu äussern und erhält so Informationen zum weiteren Vorgehen.

Einige Patient:innen sind neu, denen stellt sich Paloma kurz vor. Andere kennt sie schon, weil sie sie schon ein paar Tage lang betreut. Paloma stellt Fragen zum Befinden und möglichen Schmerzen und (neuen) Problemen. Das Pflegepersonal wird ständig miteinbezogen. Denn Paloma hat nur eine Momentaufnahme. Das Pflegepersonal ist die ganze Schicht um die Patienten herum und kann so viele Sachen langfristiger beurteilen. 

Mir kommt die Fallbesprechung wie ein grosses Quiz vor. Man hat viele einzelne Puzzleteile, die es richtig zusammenzusetzen gilt, damit man die Lösung erhält: Zwischen den einzelnen Patienten bespricht und diskutiert Paloma auf dem Gang die verschiedenen Fälle detaillierter mit der Pflege oder hält telefonische Rücksprache mit dem diensthabenden Oberarzt. Nebenbei muss Paloma noch verschiedene weitere Untersuchungen der Patienten oder Röntgenaufnahmen anmelden, Rehas organisieren, Rücksprachen mit Hausärzten und ggf. Pflegeheimen halten u.v.m.

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Besprechung im Stationszimmer Bettenstation Chirurgie
Besprechung im Stationszimmer der Bettenstation Chirurgie

Kurze Mittagspause

11:30 Uhr: Es warten noch weitere Patienten, aber Paloma schickt Liv und mich in die Mittagspause. Paloma will auch noch etwas Büroarbeit erledigen. Ein Sandwich zwischendurch, bevor die nächste Sprechstunde startet, muss heute für sie reichen.
 
"Ist jeden Tag so viel los?", frage ich Paloma. "Nein, aber wir haben Wintersaison und wenn es vom Wetter her ein schönes Wochenende war, hat es montags immer einige neue Patienten auf der Station. Morgen wird's nochmal etwas stressiger, da ist Chefarztvisite und es geht zügig voran, weil der Chefarzt alle Patienten sehen will."
 

Gipssprechstunde

12:00 Uhr: Am Nachmittag findet die Gipssprechstunde satt. Paloma ist diese Woche dreimal jeweils am Nachmittag dort eingeteilt. Diese Sprechstunde gehört zum Notfall. Hier werden die Patienten vorstellig, die nicht operiert wurden, sondern bei denen der Bruch für die Heilung eingegipst wurde. Hier erwarten uns im Laufe des Nachmittags wiederum acht Patienten.

Trotz des durchgetakteten Terminplans nimmt sich Paloma Zeit und bezieht Liv in ihre Beurteilung der Untersuchungsergebnisse (meist Röntgenaufnahmen des vermeintlichen Bruchs) mit ein und fragt sie nach ihrer Meinung, fragt ihre Kenntnisse ab und vermittelt Wissen.

Ich staune, was Paloma den ganzen Tag leistet: "Wie merkst du dir das alles, was du mit den Patienten besprichst und ihnen versprichst zu erledigen? Du notierst dir kaum etwas. Und es kommt ein Patient nach dem anderen. Wann erledigst du das Offene alles?". Paloma lacht: "Ich kann mir das mittlerweile alles recht gut merken. Und einige Patienten sehe ich ja nicht zum ersten Mal. Erledigen muss ich das Organisatorische zwischendurch. Und nach der Sprechstunde diktiere ich noch einiges für die zu schreibenden Berichte."

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Liv und Paloma Gipssprechstunde
Unterassistentin Liv (hinten) und Assistenzärztin Paloma in der Gipssprechstunde

Feierabend

16:50 Uhr: Die Sprechstunde ist vorbei, aber es steht noch einiges an Büroarbeit an, um alles, was am Tag gelaufen ist, zu dokumentieren. Die Arztberichte werden anschliessend von den Arztsekretärinnen geschrieben und später von Paloma visiert und einem Oberarzt (OA) nochmals zur Kontrolle vorgelegt. Anschliessend ist nach einem stressigen Tag auch für Paloma Feierabend. Paloma: "Es ist nicht jeden Tag so viel los. Heute war wirklich ein sehr ereignisreicher Tag."
 

Fazit

Ich bin beeindruckt, was Assistenzärzte (der Unfallchirurgie) leisten. Und wie viel sie bereits alleine, in Eigenverantwortung machen. Sie assistieren bei OPs oder operieren bei weniger komplexen Fällen unter Aufsicht selber. Sie betreuen stationäre Patienten vor einer OP und postoperativ, melden verschiedene Untersuchungen an, halten Rücksprache mit anderen Ärzt:innen, organisieren Rehas und verfassen (Austritts-)Berichte. 

Paloma merkt sich den ganzen Tag über so viele verschiedene Anliegen ihrer Patienten. Sie engagiert sich sehr für sie, hält ständig Rücksprache mit den Diensthabenden Ärzt:innen zum Patientenzustand, verordnet Therapien und Medikamente. Auch wenn's hektisch ist, bleibt sie cool und nimmt sich für jeden einzelnen Patienten Zeit. Und bei all dem hohen Arbeitsaufkommen nimmt sie sich zusätzlich noch Zeit, ihre Unterassistentin (und die mitlaufende Praktikantin aus der Unternehmenskommunikation) miteinzubeziehen und sie zu unterrichten.

Ich bin mittlerweile in meinem Büro, streife die weisse Kleidung ab und bin wieder in zivil. Etwas schwirrt mir schon der Kopf. Den ganzen Tag auf den Beinen und definitiv zu wenig getrunken. Das ist nicht so ohne, wenn man sonst fast den ganzen Tag am Bürotisch hockt. Es war ein sehr spannender Tag und eine definitive Erkenntnis für mich: Chirurgin wäre nichts für mich.
 

Ein paar Fakten zu Assistenzärzten (AA)

Assistenzärzte haben ihr Medizinstudium (Regelstudienzeit: sechs Jahre) erfolgreich abgeschlossen und ihr Staatsexamen abgelegt. Anschliessend folgt eine Assistenzarztzeit von fünf bis sechs Jahren. In den ersten beiden Assistenzarztjahren sind die Assistenzärzte im KSGR im sogenannten "Common Trunk" – so wird die zweijährige Grundausbildung genannt. Die AA sind in einem Pool angestellt und rotieren. Dabei sind sie in der Regel sechs bis zwölf Wochen in einem Fachgebiet der Chirurgie (ausser HNO, Handchirurgie und Plastische Chirurgie) sowie der Notfallstation. Danach folgt der 4-jährige "Special Trunk". Hier rotieren sie dann weniger und sind möglichst in dem Fachgebiet eingeteilt, in dem sie ihren Facharzttitel anstreben.

Jede Assistenzärztin / jeder Assistenzarzt hat ein/e Tutor:in, die/der sie betreut. Fachlich sind die AA in die Teams integriert, denen sie aktuell zugeteilt sind. Bei der Patientenbetreuung sind sie hier den Oberärzten und Kaderärzten des Teams unterstellt. Zusätzlich gibt es täglich einen verantwortlichen / diensthabenden Oberarzt (OA) pro Fachgebiet, der erste Ansprechperson für die AA bei der Patientenbetreuung ist.

 

2023 wurden 265 Assistenzärzt:innen (AA) und 218 Unterassistenzärzt:innen (inkl. Blockstudenten) (UA) im KSGR ausgebildet, 2022 waren es 216 AA und 196 UA. (Quelle: https://graubuenden.foleon.com/ksgr/jahresbericht-2023/facts-figures)